PILZE

August 2016

Unterwegs mit einem Sammler

Sie sind über Nacht plötzlich da, bilden merkwürdige Hexenringe, die Schönsten unter ihnen sind oft giftig – Pilze haben etwas Märchenhaftes.

Als Kind liebte ich die Geschichten, in denen sprechende Mäuse, Igel und Kobolde in hohlen Pilzhäusern lebten. Die Wände aus dem knubbeligen weißen Fuß, das rote Dach mit den weißen Punkten fand ich heimelig. Von Schnecken ausgefressene Pilze erinnern mich noch heute an das Kindheitsgefühl. Und Fliegenpilze in makelloser, giftiger Schönheit sind wie die bösen Feen des Waldes.

Phantasie und Märchenwesen braucht es aber gar nicht für das Geheimnis um die Pilze. Sie existieren ohnehin in einer seltsamen Zwischenwelt. Sie sind nicht Tier, nicht Pflanze und lassen sich deshalb in unserer Alltagswelt schwer einordnen. Sie leben mit den Pflanzen in enger Verbindung, versorgen beispielsweise Bäume mit Mineralstoffen und bekommen von ihnen dafür den Zuckersaft, den die Blätter produzieren.
Pilze narren unsere Wahrnehmung. Sie nehmen wie Zauberwesen ganz verschiedene Formen an, scheinen wie Tintenfische, wie Blumen, wie Trompeten, wie ein Batzen Quark oder Gelee, wie Eiszapfen. Ihr eigentliches Reich ist freilich unter der Erde. Dort breiten sie sich in Fasern, den Hyphen, aus, bei manchen Arten über einen Quadratkilometer. Das ist der Pilz. Was wir sehen, ist nur der Fruchtkörper.

Der Wald kommuniziert per Internet

PilzDieses Geflecht, das sie untereinander und mit ihren Pflanzenpartnern verbindet, das Mycel, ist das wirkliche Geheimnis. Das feine unterirdische Netz versorgt die Pilze nicht nur mit Nährstoffen. Es ist das Internet der Natur. Über die Pilzfäden schicken die Bäume einander Schädlingswarnungen. Was das Internet der Menschen nur in Science-Fiction-Filmen kann, nämlich per Mail Dinge versenden, kann das Mycel. Bäume tauschen darüber miteinander Nährstoffe und Gifte gegen Schädlinge oder Kräuter, die ihren Lebensraum stören, aus.

Sporenbilder

Mehr als andere Wesen sind Pilze ein Symbol der Vergänglichkeit. Wo am Tag zuvor nur eine dämmrige Waldwildnis war, schimmern plötzlich rehbraune Kappen. Wo Wiesenblumen wucherten, hat auf ein Mal ein weiß leuchtender Schirm die Stängel beiseite gedrückt. Und kaum, dass ein Pilz erschienen ist, beginnt er zu verfallen. Ein paar Tage später ist er nur noch eine schleimige Masse. Der nussige Duft, der Erfahrene zu den Steinpilzen leitet, hat sich verwandelt in den Geruch von Verwesung.
Das schnelle Werden und Vergehen der Pilze, die versteckten Orte, an denen sie wachsen, macht aus ihrer Ernte eine Jagd, für die es Eingeweihte braucht.
Ich kennen so einen. Er ruft mich eines Tages im August an: „Ich habe Steinpilze gefunden und die Stelle gekennzeichnet.“ Bis übermorgen seien sie vielleicht noch da. Wie verabreden uns für den übernächsten Nachmittag.

Halte die Augen offen!

PilzWir fahren hinaus. An einer Waldkreuzung stellen wir das Auto ab, gehen ein Stück den Weg entlang. Dann biegt mein Begleiter unvermittelt ins Gestrüpp ab. „Jetzt halte die Augen offen“, sagt er. Er beschränkt sich allerdings nicht aufs Schauen, sondern beginnt gleich zu erklären, wie sich Pilze unterscheiden und wie wir bestimmen, welche genießbar sind.
„Zuerst schauen wir uns die Sporen an.“ Ideal wäre, die Kappen mit nach Hause zu nehmen und über Nacht mit der Unterseite auf ein Papier zu legen. Die feinen Zellen, über die sich der Pilz vermehrt, fallen aus und bilden ein Muster. Das sagt einiges über den Pilz.
Die weißen Hüte der essbaren Wiesenchampignons ähneln beispielsweise denen der tödlichen Knollenblätterpilze, aber die einen haben braunschwarze Sporen, die anderen weiße. Zu den Blätter- oder Lamellenpilzen gehören sie beide. Das ist ein weiteres Merkmal zur Pilzbestimmung: Ob die Sporen in Lamellen, Poren oder Röhren sitzen.
Der Waldläufer hat sein Zeichen erkannt, einen dünnen Ast, der wie zufällig quer zu anderen liegt. Zuerst breitet er die Putzreste der vergangenen Pilzmahlzeit versteckt unter Gesträuch aus.

„Wichtig ist: Mit den Sporen nach unten“, sagt er. Zwischen jungen Buchen und Kiefern in der Nähe einer moorigen Stelle scheint es plötzlich heller braun zwischen dem vertrockneten Laub auf dem Boden. Der erste Steinpilz. „Das sind Röhrenpilze“, sagt der Fachmann. „Möglichst weit unten abschneiden.“

Der Waldläufer probiert den Giftpilz

Er betrachtet den geernteten Pilz zufrieden, schneidet zwei kleine Stückchen ab und reicht mir eines zum Probieren. Schmeckt nussig. „Das ist auch ein Merkmal“, sagt er. „Die Essbaren schmecken angenehm.“ Eine Ausnahme seien die extrem giftigen Knollenblätterpilze. „Die schmecken nach Honig.“ Das weiß er aus wissenschaftlicher Begeisterung, die stärker ist als die Angst vor der Vergiftung. Er hat sie probiert. „Nur ein kleines Stückchen und dann ausgespuckt.“ Zur Nachahmung ist das auf gar keinen Fall zu empfehlen.

Als wir einen hübsch rosafarbenen Pilz finden, ist er sich nur sicher, es einer der sehr artenreichen Gattung der Täublinge, aber nicht, ob er genießbar ist. Er schält einen Fleck Haut ab und schneidet darunter zwei Scheibchen heraus. Bei den europäischen Täublingen sei der Geschmack eine gute Möglichkeit um genießbare und ungenießbare von einander zu unterscheiden.
Tapfer probiere ich. Ihm schmeckt sein Stück. Bei mir breitet sich ein feines Brennen ganz hinten auf der Zunge aus. Ungläubig schaut mich der Fachmann an, probiert noch ein Stückchen. „Den können wir essen“, entscheidet er. Später findet er einen, der schwefelig stinkt und ebenso schmeckt. Den probiert nur er. Den ersten Rosigen nimmt er jedenfalls mit. Zu Hause will er ihn mit Hilfe des Sporenbildes und eines Stapels Fachbücher genauer bestimmen. Und da merke ich, dass es da schon viel Wissen braucht. Zu fein sind manchmal die Unterschiede zwischen genießbar und ungenießbar.
Entlang eines Gebüschs aus jungen Birken entdecke ein eine ganze Schar hässlich grau-brauner Kappen. Mein Begleiter ist begeistert. Denn nun wird unser Korb schnell gefüllt sein. „Das sind essbare Birkenpilze.“ Wie schneiden sie ab und entscheiden, dass die Pilzbeute für heute reicht.

Schönheit kann man gefahrlos genießen

Nun wollen wir wirklich nur noch die Augen offen halten und schauen, welche Pilzwesen in dem zunehmend düsterer werdenden Wald an die Oberfläche gekommen sind. Da blühen in riesigen Rosen Schönheiten wie der Riesenporling, der Holz zersetzt. Wir entdecken an Baumstämmen Zunderschwämme, wie Dächer unter denen sich Elfen und Feen vor Regentropfen schützen. In einen liegenden Ast am Boden scheinen Trolle oder Kobolde schwarze Keulen gesteckt zu haben.

Um den Wald und seine Pilze ein märchenhaftes Eigenleben entwickeln zu lassen, braucht es gar nicht viel Phantasie. Die Schönheit kann man gefahrlos genießen. Wer jedoch Pilze sammeln möchte, sollte sich intensiv mit Bestimmungsbüchern befassen und am besten Eingeweihte mitnehmen.Um den Wald und seine Pilze ein märchenhaftes Eigenleben entwickeln zu lassen, braucht es gar nicht viel Phantasie. Die Schönheit kann man gefahrlos genießen. Wer jedoch Pilze sammeln möchte, sollte sich intensiv mit Bestimmungsbüchern befassen und am besten Eingeweihte mitnehmen.

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